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Unsere Traumatisierten

Oskar Lafontaine und Wolfgang Schäuble: Inwieweit bestimmen posttraumatische Reaktionen politische Entwicklungen?

Erbittert von Wolfgang Schäubles Vorschlägen zum Umbau des Rechtsstaates in eine Terrorbekämpfungsmaschinerie griff der Münchner Ex-Staatsanwalt und Innenpolitik-Chef der Süddeutschen Zeitung Herbert Prantl zur Psychologie. „Seit dem Attentat vom 12. Oktober 1990 ist er an den Rollstuhl gefesselt. Wer jeden Tag die eigene körperliche Schwäche erlebt und sie zu überwinden versucht, der erträgt wohl die echten oder vermeintlichen Schwächen der Kollegen, aber auch die echten oder vermeintlichen Schwächen des Staates noch weniger als früher.“
Das Argument schlug Wellen. Die Bildzeitung sprach von einem „schweren Schreibunfall“. Schäuble selbst erklärte, „Es ist eine diffamierende Beleidigung, meine Denkanstöße damit zu erklären, dass ich selber Opfer eines Attentats geworden bin.“ Er fühle sich als Behinderter diskriminiert, habe sich früher gegen solche Vorwürfe von seiten anderer Politiker wehren müssen, jetzt kämen sie von Journalisten.
So lohnt es sich, einmal etwas genauer der Frage nachzugehen, ob und wie sich eine Traumatisierung auf das politische Urteil auswirken kann. Diesen Zusammenhang auszuschliessen scheint ebenso voreilig wie ihn hastig in die gewünschte Richtung zu biegen. Allein nach dem gesunden Menschenverstand lässt sich ebenso triftig behaupten, wer im Rollstuhl sitze, habe grössere Übung im Umgang mit Schwächen als jeder Gesunde. Denkt Schäuble deshalb an gezielte Schüsse auf Terroristen, weil er selbst angeschossen wurde? Oder liegt ihm deshalb soviel am Schutz möglicher Opfer, weil er selbst Opfer war? So lässt sich eine Debatte nicht führen.
Es gehört zu den interessantesten Fragestellungen in der Psychologie, wie Menschen mit Traumatisierungen fertig werden. Der Analytiker erfährt hier vielleicht am nachdrücklichsten, dass Menschen immer gut für Überraschungen sind. Der Freud-Schüler Sandor Ferenczi hat das in einen Vergleich gefasst, der mir aus dem Herzen spricht. „Wenn jemand nach fünfundzwanzigjähriger Analysenarbeit plötzlich anfängt, die Tatsache des psychischen Traumas anzustaunen, so mag er Ihnen ebenso merkwürdig vorkommen wie jener mir bekannte Ingenieur, der nach fünfzigjähriger Dienstzeit in Pension ging, sich aber jeden Nachmittag zur Bahnstation begab, um den eben abfahrenden Zug anzustaunen, oft mit dem Ausruf: ‚Ist denn die Lokomotive nicht eine wunderbare Erfindung!'“
Die erste Begegnung mit dem Rätsel der posttraumatischen Reaktionen in der deutschen Politik war 1999 der Rücktritt von Oskar Lafontaine. Er kam aus heiterem Himmel und war in seiner Radikalität unverständlich. Willi Brandt, grösster Sieger und grösstes Opfer der deutschen Sozialdemokratie nach dem Krieg, hatte in vergleichbarer Situation immerhin den Parteivorsitz behalten. Ich schlug damals vor, die Trauma-Psychologie zu Hilfe zu nehmen.

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