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Die RAF, die Gnade und das Helfer-Syndrom

Auge um Auge, Zahn um Zahn, Gnade um Gnade – an diese archaische Formel fühlte sich erinnert, wer angesichts der Debatte im Jahr 2007 um die Begnadigung der RAF-Terroristen wiederholt (in der Bildzeitung, im Spiegel und bei Sabine Christiansen) dem Titel „Gnade für Gnadenlose?“ begegnete. Diese Formel hat mich zuerst verwirrt und dann empört. Denn Gnade ist keineswegs in einem Atem mit gerechter Strafe oder besser ausgewogener Rache zu denken, wie es solche Formulierungen nahelegen. Sie ist das Gegenteil von Rache und von Strafe. Wer fordert, dass die Gnadenlosigkeit eines Täters gegen die Gnade aufgerechnet wird, welche ihm gewährt wird, verrät nur, dass er von Gnade nichts verstanden hat. Er sollte lieber direkt sagen, dass er Rache für gut und Gnade für weichlich hält. Er macht aus Gnade, die von ihrer ganzen Bedeutung her ein Geschenk, eine freiwillige Gabe ist, einen Rechenpfennig, ein Tauschobjekt, das die Würdigen bekommen und die Unwürdigen nicht. Gnade ist in seinen Augen etwas wie eine Nachlässigkeit in der Buchführung, wie Gleichgültigkeit gegenüber den Opfern eines Verbrechens, gar wie Parteinahme für Bösewichte. Aber Gnade ist nichts davon.

Gnade dem Gnadenlosen

Sinnvoller und genauer beim Thema wäre eine andere Formulierung: Wem überhaupt Gnade, wenn nicht dem Gnadenlosen? Wo Gnade ist, wird nicht aufgerechnet, vergisst Justitia ihre Prinzipien. Sie lässt, wie die Redensart sagt, Gnade vor Recht ergehen. 1977 war für mich ein wichtiges Jahr, aus sehr selbstbezogenen Motiven. Damals war mein Buch „Die hilflosen Helfer“ erschienen, in dem ich über eine seelische Dynamik berichtete, welche zeitgleich im Terrorismus explodiert war. Ich hatte nicht vorgehabt, mich als Psychoanalytiker mit Terror zu beschäftigen, das geschah erst sehr viel später. Aber die verborgene Thematik des Terrors und des Helfer-Syndroms sind verwandt. In beiden Fällen geht es darum, dass idealistische Motive destruktiv werden, weil sie den Kontakt zu Einfühlung und Gegenseitigkeit verlieren. Ich hatte beobachtet, dass sich viele Helfer nicht an der Realität ihrer Schützlinge orientieren und professionell arbeiten, sondern sich in eigenen Idealvorstellungen gehen lassen und dadurch Gefahr laufen, den Kontakt mit der Realität einzubüssen, sich selbst und andere zu schädigen. Ich beschrieb die Helfer-Rolle als narzisstische Verführung, als seelische Gefährdung in dem Sinn, dass auf diese Rolle eingeengte Helfer ihre eigenen Gefühle und Bedürfnisse ebenso verleugnen wie sie versäumen, die Stärken ihrer Schützlinge zu fördern. Es ist ihnen wichtig, möglichst viele Menschen als abhängig, als Ziel von Belehrung, von Hilfe anzusehen; nur in dieser Rolle fühlen sie sich wohl. Die meisten dieser Gesichtspunkte lassen sich auf die RAF-Aktivisten übertragen. Ich konstruierte die Dynamik des Helfer-Syndroms als Identifizierung mit einem übersteigerten Idealbild. Solche erlebnisprägenden Idealbilder, so meine These, würden von den hilflosen Helfern gerade nicht aus einer Begegnung mit realen Vorbildern, etwa mit liebevollen und ihnen zugewandten Eltern gewonnen, sondern aus Erfahrungen, abgelehnt, verlassen, gekränkt worden zu sein, in denen sie Phantasien von einem mächtigen und perfekten Ego entwickelt hätten, die ihnen dann als Vorlage für eine Identifizierung dienten – gemäss dem Sprichwort: „Weil mich keiner pflegt, werde ich Krankenschwester!

Die Ideale der 68er

Ich vermute heute, dass meine Argumente etwas vom Geist der damaligen Zeit trafen. Viele der von den 68ern geprägten Menschen begannen, sich kritisch mit den Idealen ihrer Adoleszenz auseinanderzusetzen. Die winzige Minderheit der RAF-Aktivisten hingegen übersteigerte die Ideale der Bewegung defensiv. Sie konstruierte sich das Feindbild des faschistischen Staates, sah in Polizisten SS-Leute, in hochrangigen Zivilisten Organisatoren neuer Völkermorde. Daraus leitete die RAF das Recht auf bewaffneten Kampf – auf Mord und Raub – gegen ein System ab, das die meisten Bürger für einen Rechtsstaat hielten und das sich im grossen Ganzen auch als solcher bewährte. Mein Buch hatte sich überraschend zum Bestseller entwickelt, was dazu führte, dass ich viel in Deutschland, Österreich und der Schweiz reisen musste. Obendrein hatte mein dreijähriger Sohn 1976 in der Toscana meine Brieftasche mit Geld und allen Papieren aus dem Fenster geworfen (wir fanden sie Jahre später verwittert in einem Brombeerdickicht). Ich war überzeugt, man hätte mir die Tasche unbemerkt entwendet. So meldete ich Ausweis und Führerschein als gestohlen und beantragte neue Dokumente. Daher hatte in dem Jahr 1977 angesichts der Schleyer-Entführung die Rasterfahndung mehr als ein Auge auf mich. Ich wurde überprüft, durchsucht, hatte an jeder Grenze lange zu warten. Ich verstand zuerst nicht, was gegen mich vorlag, bis mich Freunde aufklärten. Ich ärgerte mich über diese Aufregung der Behörden insgeheim und blieb nach aussen höflich und kooperativ. Ob mich die Beamten wirklich im Verdacht hatten, weiss ich nicht. Jedenfalls hat der Staat auch mich korrekt behandelt und kein Gesetz gebrochen, so wenig wie ich selbst. Meine zornigen Gefühle, verbunden mit einer ihnen widersprechenden Praxis der De-Eskalation sind mir haften geblieben. Ich erinnere mich auch, dass ich mich damals über beide Seiten ärgerte, denen ich die Schuld zuschrieb, dass ich so belästigt wurde.

Zwei Fronten, keine Seite

Ich konnte die Aktiven der RAF nicht leiden, die dem verabscheuenswürdigen Prinzip folgten, dass der Zweck die Mittel heiligt. Und ich konnte die Staatsmacht nicht leiden, die derart überreagierte, aber nicht aufhören konnte, bei jeder Gelegenheit zu betonen, man habe es nicht mit verrückten Idealisten, sondern mit ganz gewöhnlichen Verbrechern zu tun. „Ganz gewöhnliche Verbrecher?“ Terroristen sind das nicht, aber es ist gut und sinnvoll, sie so zu behandeln. Nur so kann sich der Rechtsstaat vor seinen Neigungen zum Gegenterrorismus bewahren. Es bedarf geistiger Anstrengung und einer festen Überzeugung, dass es in jedem Menschen Gutes und Böses gibt, um angesichts von Terrortaten ruhig zu bleiben und für eine Deeskalation zu sorgen. Terroristen sind idealistische Mörder, wahnsinnige Mosaike aus Kriminalität und Prinzipienreiterei. Wenn die politische Rhetorik das ignoriert, während die staatliche Aktion nach allen Richtungen überschiesst, dann gewinnen sie viel zuviel Aufmerksamkeit für ihr böses Theater. Ich habe mir immer gewünscht, dass der Rechtsstaat auf den Terror souveräner und würdevoller reagiert hätte, als er das getan hat. Das hat sich von der RAF bis al-Quaida nicht geändert. Immerhin, gemessen an der Überreaktion von Präsident Bush, war der deutsche Aktionismus von 1977 mässig, vernünftig und schliesslich auch erfolgreich. Es ist ihm zumindest teilweise gelungen, aus Terroristen gewöhnliche Verbrecher zu machen.

Gnade für gewöhnliche Verbrecher

Kriminelle sind Menschen, denen ein Stück Nachdenklichkeit und Einfühlung fehlt, mit denen brave Bürger wie ich die eigenen kriminellen Neigungen balanzieren können. Wenn immer beschworen wurde, Bankräuber wie Bankräuber und Mörder wie Mörder zu behandeln, dann sollte ihnen auch jetzt niemand dieses bescheidene und verdiente Stück Gewöhnlichkeit absprechen. Sie verdienen Gnade, eben wie gewöhnliche Verbrecher. Es gibt wunderliche Zufälle, die sich als Fügung aufdrängen, ohne dass ich daraus eine Macht ableiten würde, welche sich um die Inszenierung solcher Ereignisse bemüht. Als ich an dem Helfer-Buch schrieb, lernte ich Angelika Holderberg kennen, die damals als Sozialpädagogin arbeitete und später analytische Therapeutin für Kinder und Jugendliche wurde. Ich habe sogar einen Teil ihrer Geschichte in dem Buch verwertet und freute mich nun sehr, angesichts der Debatte über die Begnadigung der RAF-Häftlinge einen Artikel von ihr zu lesen. Angelika hatte sich mit einer Initiativgruppe von analytischen Therapeuten über sieben Jahre hin regelmässig mit ehemaligen Mitgliedern der RAF getroffen und den schwierigen Dialog mit diesen fanatisierten, später durch die Einzelhaft traumatisierten Menschen gesucht. Daraus leitet sich eine Nachdenklichkeit ab, die wir bei den Menschen vergeblich suchen, welche „Reue“ zur Bedingung einer Begnadigung von Christian Klar und eine Freilassung auf Bewährung von Brigitte Mohnhaupt machen. Der Schmerz über eine ungerechte Tat, den wir Reue nennen, stellt sich nicht einfach ein – es sei denn, wir gehen so vor, wie es die Kirche lange Zeit tat: Wer ein Büsserhemd trug und Asche auf sein Haupt streute, der war ein reuiger Sünder, auch wenn er insgeheim Rache schwor, wie Kaiser Heinrich auf seinem Gang nach Canossa.

Seelische Umkehr

Diese Form der Reue war ein Strafritual; sie durfte daher auch ein Lippenbekenntnis sein. Eine seelische Umkehr, wie wir sie uns von einem modernen Menschen wünschen, setzt einen inneren Freiraum voraus, schrieb Angelika Holderberg am 2.2.2007 in der Süddeutschen Zeitung. Echte Reue wächst aus der Erkenntnis, dass wir anderen geschadet haben und unsere Überzeugungen, aus denen heraus wir das taten, nicht gerechtfertig waren. So erhebt sich die Frage, „inwieweit Hochsicherheitstrakt und Isolationshaft, also die Haftbedingungen, denen Christian Klar und Brigitte Mohnhaupt ausgesetzt waren und sind, dazu beigetragen haben, sich auf diesen Erkenntnisprozess einlassen zu können – oder ob sie eher zum Gegenteil führten: nämlich dazu, an Feindbildern festzuhalten.“ Terroristen können nicht anders als ihre Wahrnehmungen zu spalten: es gibt das Gute, das sie mit allen Mitteln durchsetzen wollen, und eine Welt von Feinden, die ebenso mit allen Mitteln zerstört werden muss. Was nicht in dieses Schema passt, wird ausgeblendet. Diese Spaltung aufzugeben, Zwischentöne wahrzunehmen, setzt voraus, dass jemand einen Entwicklungsschritt vollziehen kann, der nur unter sehr günstigen Bedingungen (wie sie etwa eine psychotherapeutische Klinik sich herzustellen bemüht) erfolgen wird. Wer jemals Menschen kennengelernt hat, die nur schwarz oder weiss kennen, nur Herzensfreunde oder Todfeinde haben, der weiss, wie schwer es ist, solche Haltungen aufzugeben.

Immer in Richtung

Spaltungsmodell Um sich also von einer terroristischen Vergangenheit zu distanzieren, muss jemand die innere Freiheit besitzen, das eigene Urteil, die eigene Sicht der Welt grundlegend zu revidieren. Wir kennen solche radikalen Veränderungen der Weltsicht, aber sie verlaufen durchweg in die Richtung auf das Spaltungsmodell, nicht von ihm fort. Es wäre, psychologisch gesehen, viel leichter, aus einem Menschen, der die Wirklichkeit differenziert wahrnimmt und sich in andere einfühlt, einen Terroristen zu machen, als umgekehrt aus dem Terroristen eine Person, die zu diesen reifen seelischen Leistungen fähig ist. Wer Einzelhaft ausgesetzt ist, muss alle inneren Möglichkeiten, Halt zu gewinnen, maximal anspannen, um nicht seelisch zu zerbrechen. Daher ist es auch nicht verwunderlich, wenn die Inhaftierten keine guten Kandidaten für ein Reue-Schauspiel sind; darüber hinaus aber echtes Mitgefühl für ihre Opfer und ein wirkliches Umdenken, einen Neuanfang bereits in der Haft zu erwarten, erscheint vom psychologischen Standpunkt so aussichtsreich wie die Operation eines Gehirntumors mit Hammer und Meissel.

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