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Die Zerrissenheit des Migranten und die Sehnsucht nach dem Märtyrertod

Der Weg eines in Deutschland geborenen Türken zum Selbstmordbomber

Das Video ist professionell gemacht. Kurz vor der Explosion wird die Tele-Optik auf Weitwinkel gestellt, um die Druckwelle und die Staubwolke der Explosion in ihrem ganzen Umfang zu sehen. Vorher hat die Kamera den Weg eines mit sprengstoffgefüllten Säcken beladenen Toyota-Pickup zu einem amerikanischen Militärstützpunkt verfolgt, hat gezeigt, wie ein ganzer Strang von Zündkabeln mit Isolierband zusammengehalten und in die Fahrerkabine geführt wird, hat den selig lächelnden Fahrer erklären lassen, er werde bald als Märtyrer im Paradies sein. Wer die Sekunden zwischen dem Erscheinen der Rauchwolke und dem Krachen der Explosion zählt, findet heraus, dass die Kameraleute rund zweitausend Meter von ihrem Kameraden entfernt waren, dessen Tod sie preisen.
Was veranlasst einen 28jährigen Familienvater, der in Deutschland geboren wurde und in einem Lager der Firma Bosch in Ansbach arbeitete, auf diese Weise seinem Leben ein Ende zu setzen? Cüneyt Ciftci scheint nicht in die klassischen Täterprofile von Selbstmordterroristen zu passen, die jung sind, keine festen Bindungen haben und eine Adoleszenzkrise zu bewältigen haben. Aber die nähere Betrachtung des Täters und seiner Familie zeigt doch den engen Zusammenhang von Entwicklungskrise und Verführbarkeit für diese moderne Form des erweiterten Suizids.
Cüneyt wurde am 14.07.1979 in Freising/Oberbayern geboren. Seine Eltern waren bereits in den sechziger Jahren eingewandert; die Familie zog nach Ansbach, als Cüneyt noch sehr klein war. Dort besuchte er die Grund- und Hauptschule. Sein Vater gehörte zu den Gründungsmitgliedern der islamistischen Organisation Milli Görüs in Ansbach. Cüneyt Ciftci wurde streng erzogen und in jungen Jahren des öfteren von seinem Vater verprügelt. Wichtiger als ein qualifizierter Abschluss war dem Vater die islamische Schulung; er schickte seinen Sohn im Alter von zwölf Jahren auf eine Koranschule mit Internat in der Türkei.
Nach seiner Rückkehr begann der 15jährige eine Lehre als Maurer, die er nicht abschloss. Er kam 1998 als Lagerarbeiter bei der Firma Bosch in Ansbach unter, wo auch der Vater arbeitet. Als er 18 Jahre alt war, schenkte ihm der Vater einen tiefergelegten Mercedes mit Ledersitzen, den der Führerschein-Neuling bereits beim ersten Ausflug in den Graben setzte – Totalschaden.
Der Amateurpsychologe würde darin vielleicht eine Rebellion gegen den frommen und überfürsorglichen Vater sehen, und die nächsten Ereignisse gäben ihm Recht: Cüneyt verliebt sich in Seda, eine Frau aus einer liberalen, westlich orientierten Familie, in den Augen seines strenggläubigen Vaters eine Messalliance. Er heiratet sie, schon während der Hochzeitsfeier gibt es Streit zwischen den Famlien, weil sie nicht den islamistischen Vorstellungen des Vaters entspricht. Die nächsten Jahre führen Cüneyt und Seda ein westliches Leben, sie trägt kein Kopftuch, beide gehen aus, tanzen, tun alles, was nicht zu den Traditionen des Vaters passt.
Aber diese Entwicklung zeigt die Schwäche und Unsicherheit in Cüneyts Selbstgefühl: er hat sich Seda und Sedas Eltern gefügt, hat die Autorität gewechselt, ohne wirklich selbständig zu werden und schliddert jetzt in eine seelische Krise vom Typus des Autonomie-Abhängigkeits-Konflikts. Er braucht Sedas ungeteilte Zuwendung, und verliert sie durch genau den Mechanismus, der sie festigen soll: durch die Geburt der beiden Söhne. Beide haben sich Kinder gewünscht, sehen darin ein Zeichen, wie gut sie sich verstehen und wieviel Halt sie aneinander haben. Und doch verändert die Kinder alles. In einer bäuerlich bestimmten Vergangenheit festigte die Ankunft der Erben die Ehe. In den individualisierten Beziehungen der Moderne treibt die Geburt eines Kindes die Scheidungsrate auf den Gipfel.

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