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Vom Segen des Wartens

Untersuchen wir den Hintergrund dieser Szene, entdecken wir eine Mutter, die verunsichert ist, weil sie fürchtet, dass ihre Kontrolle über das Leben ihrer Kinder schwindet und sie nicht mehr die wichtigste Person in deren Leben sein wird. Dieser Bedeutungsverlust weckt Ängste, die sich darauf beziehen, dass der erlebte Bedeutungsverlust zunehmen, sich vertiefen, schlimmer werden könnte, wenn man nicht handelt, sondern wartet. Dagegen will die Mutter etwas unternehmen – und zwar gleich, bevor die Situation schlechter wird. Lieber will sie selbst tätig sein, als zu erleiden, was an Neuem auf sie zukommt. Sie beginnt wie der Hai unablässig zu schwimmen, sich gegen etwas zu stellen, dessen Verlauf sie nicht absehen kann. Sie erlebt sich selbst als stets bemüht, immer auf dem Sprung, um dem Kind zu helfen.

Das heranwachsende Mädchen aber ist zu sehr mit den Beziehungen zu seinen Freundinnen beschäftigt, um sich in die Mutter einzufühlen. Es findet nicht, dass die Mutter ihm etwas Gutes tut. Es hat – zu Recht, zu Unrecht – die Phantasie, dass die Mutter Aufmerksamkeit für ihre mütterliche Haltung fordert und die keimende eigene Orientierung in einer Beziehungswelt ersticken könnte. Für die Tochter geht es darum, sich gegenüber Kameradinnen und Lehrern zu positionieren, deren Verhalten einzuschätzen, sich zu überlegen, ob und wie sich Beziehungen gestalten lassen. Sie wartet auf eine Veränderung, die sie als produktiv erlebt. Die Mutter erscheint ihr dagegen als jemand, der ihr die Luft zum Atmen nimmt, der mit seiner Aktivität alles verhindert, was wachsen will.

Was hat der Maler davon, wenn ihm jemand über die Schulter schaut und ihn fragt, was er da macht? Picasso hat gegen solche Zudringlichkeit die Plakette aus dem Bus zitiert: „Es ist verboten, während der Fahrt mit dem Chauffeur zu sprechen!“

Die Spirale der Angst als Triebfeder der Beschleunigung

Wer sich über den Rastlosen beklagt und sein Verhalten unerträglich findet, steigert dessen Unsicherheit – und fatalerweise damit auch sein Bemühen, diese Unsicherheit auszugleichen. Das Hai-Syndrom lässt ihn noch schneller agieren, um die Situation zu verbessern. Mutter und Tochter aus dem obigen Beispiel werden immer öfter streiten, womit sich die Mutter bestätigt fühlt, mehr tun zu müssen, um die Situation „zu retten“. Die Tochter wird sich bestätigt fühlen, dass die Mutter ihr nichts zutraut, ihr keine Räume zur Gestaltung gibt, sich zu viel einmischt. Der Versuch, aus eigener Täigkeit alles zu retten und zu verbessern überfordert letztlich beide Seiten.

Doch ist es dem Menschen nicht abzugewöhnen, seine eigene Tätigkeit über alles zu stellen. Der Raum, in dem wir uns geistig bewegen und den wir nach Gefahren absuchen, ist in der Wissensgesellschaft gewachsen. Er ist nicht mehr überschaubar. Wir werden, je kritischer wir ihn prüfen, umso sicherer sein, dass wir unser und der Situation niemals sicher sein können, dass uns gewiss etwas entgangen ist. Es gibt große Organisationen und viele Experten, welche uns Sicherheit oder Vorsorge anbieten. Sie machen uns auf Gefahren aufmerksam, an die wir sonst gar nicht denken würden: Was passiert, wenn ein Reh vor den Kühler springt? Wenn die Badewanne überläuft und einen Millionenschaden anrichtet? Um diese abzuwehren, fordern sie Opfer an Zeit und Geld. Auch im Körperinneren genügt es nicht mehr hinzuspüren, ob Atem und Verdauung ihren Dienst tun; wir müssen uns untersuchen lassen, um rechtzeitig Gefahren zu finden, von denen wir noch gar nichts wissen.

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