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Feste Bindungen

Der falsche Freund der Treue ist also die Trägheit; ihr ehrlicher Feind, aus dem ein starker Verbündeter werden kann, ist die Neugier. Mit Bindestrich geschrieben, verliert Neu-Gier etwas von der Harmlosigkeit des Hinguckens und Hinhörens ins Unbefugte. Sie wird als ein mächtiger Trieb deutlich, der den Menschen bewegt, zu erobern, zu erschließen, sich zu bewegen, das Bekannte zu verlassen und „fremd zu gehen“.
Erfüllte, lebendige Treue hängt davon ab, ob es gelingt, diese Neu-Gier soweit anzunehmen und zu lenken, dass sie sich unbeirrt und energisch auf den Partner richtet, dass seine Entwicklung, sein Wohlergehen, seine Geschichte, seine Gefühle interessant sind und an ihm immer wieder etwas entdeckt werden kann.

Das ist nicht so schwierig, wie es klingt. Der Mensch, dem wir uns mit liebevoller Aufmerksamkeit zuwenden, ist unerschöpflich, wenn wir erst angefangen haben, seine Realität zu akzeptieren, ihm nicht wie ein Fanatiker, sondern wie ein Forscher, ein Ethnograph zu begegnen. Der Fanatiker sieht immer nur Ansatzpunkte, den anderen so zu machen, wie es ihm seine eigene Überzeugung von richtig und falsch gebietet. Der Forscher hingegen akzeptiert seine Unwissenheit und lässt sich überraschen; er stellt Fragen und verzichtet darauf, zu missionieren.

Feste Bindungen haben es in der globalisierten Konsumgesellschaft schwer. Emotional sind wir so konstruiert, dass wir uns eine bessere Behandlung erwarten, wo wir die Treue halten. Viele Werbestrategen machen gegenwärtig diese Haltung kaputt, weil ihnen der Neukunde wichtiger ist als alles andere. In jedem orientalischen Basar bekommt der Vertraute die Warte günstiger als der Fremde. Im modernen Marketing verhält es sich umgekehrt: Je fremder der Kunde, desto günstiger der Preis. Wer nicht ständig bereit ist, eine vertraute Geschäftsbeziehung zu kündigen, hat Nachteile.

Für die Treue zu meiner Sparkasse und zu meinen Stadtwerken zahle ich überhöhte Gebühren; als Neukunde anderswo käme ich günstiger weg. Angesichts überhöhter Energiepreise haben jüngst sogar die Politiker der schwarzgelben Koalition die dumme Treue der Konsumenten beklagt, die nicht in der Lage sind, für ihren Strom fremdzugehen. Hoffentlich verpassen ihnen die Wechselwähler einen Denkzettel. Je weniger der Mensch angesichts der immensen Komplexizität der Moderne seine Lebenswelt einschätzen kann, desto wichtiger sind Übersicht, Vertrauen und feste Bindungen.

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